Spielen, um zu überleben

14. April 2021

Zugegeben, dieser Einstieg ist polemisch, aber ich musste bei der Lektüre des Buches „Das Mädchenorchester in Auschwitz“ von Fania Fénelon sehr oft daran denken, dass zurzeit Menschen in Demonstrationen nach ihrer „Freiheit“ verlangen oder beklagen, sich in ihrer Freiheit „beschnitten zu fühlen“, weil sie eine Maske tragen müssen und in kein Kaffeehaus dürfen.
Frauen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau hatten nichts, vor allem keine Rechte, und nur der Wunsch nach Freiheit – und für manche die Musik – haben sie am Leben gehalten.

Keine Rezension, einfach ein Buchtipp.
Fania Fénelon war Halbjüdin (eigentlich hieß sie Goldstein) und Widerstandskämpferin und wurde nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Weil sie dort als bekannte Pariser Sängerin erkannt wird und eine wunderbare Stimme hat, wird sie im „Mädchenorchester“ aufgenommen. Sie erzählt in diesem Buch ihre und die Geschichte anderer Mitglieder dieses grausig-schaurigen Orchesters.

Ein Orchester in Auschwitz? Lagerkommandant Josef Kramer und KZ-Aufseherin Maria Mandl haben es ins Leben gerufen. Sie lassen die (mehr oder weniger) musikalischen Häftlinge für sich und andere SS-Aufseherinnen zur Erbauung und Entspannung Beethoven, Schumann und Mendelssohn spielen. Hauptsächlich müssen die Orchestermitglieder jedoch Marschmusik für ausgemergelte, erschöpfte „Arbeitskommandos“ spielen oder – noch zynischer – für gequälte Frauen in der Krankenstation, an denen der berüchtigte KZ-Arzt Dr. Mengele seine Experimente vornahm. Noch ein letzter Donauwalzer, bevor sie ins Gas geschickt werden.

Im Musikblock des KZ haben die Frauen das Privileg eines Ofens, der sie wärmt, und dass sie zwei Mal täglich eine Toilette benutzen dürfen. Sie bekommen auch ein Kleidungsstück und ein Paar Schuhe, alles muss ständig sauber gehalten werden, denn jederzeit könnte eine SS-Aufseherin oder Kramer nach Musik verlangen, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Sie üben und proben den ganzen Tag. Für ihre „Privilegien“ werden sie von den anderen Häftlingen beneidet und gehasst.

Zu essen gibt es täglich dieselbe Suppe unbestimmten Inhalts, wie für alle Häftlinge, und Brot, das im Lager die Währung ist. Zwei Tage nur die Hälfte des Brots essen und mit Glück geht sich eine Zahnbürste aus. Diese und ein Notizbuch, in dem Fania niederschreibt, was sie im KZ erlebt, um es später zu berichten, werden ihre wichtigste Gegenstände. Sonst hat sie auch nichts mehr.

Der Alltag im Musikblock ist auch bestimmt von Neid, Eifersucht, Ablehnung untereinander – Arierinnen gegen Jüdinnen, Polinnen gegen Französinnen und Russinnen, schlechte Sängerin gegen gute Sängerin, gehässige Frau gegen gutmütiges Mädchen. Und alle gegen die Dirigentin, die unnahbare Alma Rosé – eine Nichte des großartigen Gustav Mahler. Alma ist unerbittlich streng, erkennt sie doch, dass sie alle buchstäblich um ihr Leben spielen müssen. Verliert das Orchester seine Berechtigung, droht das Krematorium.

Im gleichen Maße, wie sie sich leidenschaftlich hassen und streiten, können die Mädchen und Frauen des Orchesters einander auch trösten oder sich über den kleinsten Lichtblick freuen (zum Beispiel über einen Topf Sauerkraut und Würste als Bezahlung für das Spielen bei einer heimlichen Party der Aufseherinnen).

Der „Rahmen“ von Fénelons Roman sind unfassbare Grausamkeiten, die kaum begreifbar sind. Demütigungen, Bestrafungen, Erniedrigungen, Folterungen durch die SS und das Nazi-Regime. Eine Frau, die während eines „Konzertes“ des Orchesters in den elektrischen Zaun läuft, um Suizid zu begehen, schallend ausgelacht von den SS-Mitgliedern. Eine von Fanias Kolleginnen sieht vom Fenster des Musikblocks aus ihre Mutter und Schwestern an der Rampe zur Selektion – alle bestimmt für die Gaskammern. KZ-Aufseherin Mandel nimmt einer Mutter ihren kleinen blondgelockten Buben weg, verwöhnt ihn drei Tage lang, und bringt ihn dann selbst in die Gaskammer.

Fania und ihre Kolleginnen halten am Leben fest, weil sie zu ihren Verlobten oder Männern und Kindern zurück oder irgendwann doch noch Karriere als Musikerinnen machen oder der Welt von dem Unrecht erzählen wollen.

Fania wird eines Tages, wie die anderen Jüdinnen des Orchesters, ins Lager Bergen-Belsen nach Deutschland gebracht und erlebt – inzwischen schwer erkrankt an Typhus und nur noch 28 kg schwer – die Befreiung des Lagers und das Ende des Krieges.

Fania Fénelons Buch erschien Anfang der 1980er Jahre und rief unter anderen noch lebenden Mitgliedern des Orchesters heftige Reaktionen hervor. Der Autorin wurde vor allem eine falsche Darstellung von Alma Rosé, aber auch von anderen Mithäftlingen, vorgeworfen. Das ist sehr schade. Denn das Werk als solches verdient gelesen zu werden. Gegen das Vergessen.

N.B. Alma Rosé starb in Birkenau an einer Vergiftung, drei Tage nachdem sie erfahren hatte, dass sie das KZ verlassen darf, um zukünftig an der Front für Soldaten Geige zu spielen. 2003 erschien das Buch „Alma Rosé Wien 1906 Auschwitz 1944. Eine Biographie.“ von Richard Newman und Karen Kirtley, in dem das von Fénelon gezeichnete Bild über die Ausnahme-Musikerin zurecht gerückt wird.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert